Interview mit Tareq: "Ich wollte kandidieren, aber nicht um jeden Preis"

 

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Tareq Alaows wollte als erster syrischer Geflüchteter für den Bundestag kandidieren, um so den vielen in Deutschland lebenden Asylsuchenden und Migrant:innen im Parlament eine Stimme zu geben. Dieser Schritt brachte dem 32-Jährigen jedoch nicht nur Anerkennung, sondern auch massive Bedrohungen ein. Ende März 2021 sah er schließlich seine eigene Sicherheit und die seines Umfelds so stark gefährdet, dass er seine Kandidatur zurückziehen musste.

 

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Foto: Janka Schubert, Autorin: Ajda Omrani

 

Zwischen seiner Flucht aus Syrien im Jahr 2015 und seiner Bundestagskandidatur 2021 liegen gerade einmal sechs Jahre. Wer verstehen will, wie Tareq Alaows tickt und was ihn dazu bewegt, sich mit Leidenschaft für andere einzusetzen, muss einen Blick in seine Vergangenheit werfen. Sein politisches Engagement, das nicht erst in Deutschland begann, hat viel mit seinem liberalen und offenen Elternhaus zu tun.

„Ich bin in einer politischen Familie aufgewachsen. Mein Vater hat als Journalist und meine Mutter als Buchhalterin gearbeitet. Wir hatten zu Hause eine große Bibliothek. Mit 16 fing ich an, politische Bücher zu lesen.“

Bereits mit 18 verließ er Damaskus und ging nach Aleppo, um Jura zu studieren. Dies öffnete ihm die Augen für die Situation in Syrien:

„Ich besuchte im ersten Semester eine Einführung ins Recht. Dort wurde das Thema Menschenrechte behandelt. Ich dachte: toll, dass man das theoretisch lernt, aber im realen Leben gar nicht darüber reden darf.“

Zu Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime schloss Alaows sich den Studierenden seines Wohnheims an und demonstrierte mit ihnen auf der Straße für Freiheit und Demokratie. Als sich im Jahr 2012 ein bewaffneter Kampf immer mehr abzeichnete, stand für ihn fest: „Ich wollte da überhaupt nicht mitmachen und habe mich stattdessen auf das Thema Menschenrechte konzentriert und mich beim Roten Halbmond engagiert.“ Dort leistete er humanitäre Hilfe und dokumentierte für die Organisation Menschenrechtsverletzungen.

 

Über die Balkanroute nach Deutschland

Viele aus Alaows‘ Umfeld wurden inhaftiert, umgebracht, starben im Syrienkrieg oder mussten fliehen. Auch für ihn persönlich spitzte sich die Lage dramatisch zu. Daher musste er seine Heimat vor sechs Jahren verlassen: innerhalb von fünf Tagen, allein und nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Nach 25 Tagen in der Türkei ging es für ihn in einem Schlauchboot über das Mittelmeer nach Lesbos. Ihm war bewusst, dass er sein Leben verlieren könnte, wenn er sich in eines der Boote setzen würde. Doch die Aussicht, eines Tages ein Leben in Sicherheit führen zu können, erschien ihm das Risiko wert:

„Wäre ich in der Türkei geblieben, gäbe es keine Hoffnung, denn ich hätte nach Syrien abgeschoben werden können. Ich hatte also die Wahl zwischen dem sicheren Tod und einer hohen Wahrscheinlichkeit zu sterben, verbunden mit einem Fünkchen Hoffnung.“

Er kam zunächst nach Athen. Dann legte er die Balkanroute größtenteils zu Fuß zurück. Schließlich landete er nach zweimonatiger Flucht in Deutschland. Angesprochen auf die europäische Flüchtlingspolitik findet er deutliche Worte:

„Die Abschottungs- und Abschreckungspolitik der EU führt nur zu mehr Menschenrechtsverletzungen, mehr Toten im Mittelmeer und mehr Leid auf den griechischen Inseln. Wenn ich meine Erfahrung reflektiere, frage ich mich, von welchem Pull-Faktor die Politik redet. Die Leute fliehen vor Krieg, Leid, Verfolgung und nicht aus Lust und Laune. Sie machen keinen Urlaub, sondern leiden unterwegs.“

 

Fluchtgeschichte stellt die Weichen für das politische Engagement

Nach der Registrierung in Dortmund wurde Alaows zunächst 45 Tage im Sauerland untergebracht und anschließend nach Bochum geschickt. Dort lebte er zusammen mit 60 weiteren Geflüchteten in einer Turnhalle. Wenige Monate später initiierte er Demonstrationen vor dem Bochumer Rathaus, um gegen die Zustände in den Sammelunterkünften, für die Umsetzung der Rechte von Schutzsuchenden, für schnellere Asylverfahren sowie das Recht auf Arbeit und Spracherwerb zu kämpfen.

Beim Thema Integration sieht Alaows nach wie vor großen Nachholbedarf:

„Wir brauchen ein Ankommenskonzept. Zusammenleben und Inklusion kann nicht bedeuten, den Geflüchteten einfach eine To-do-Liste auszuhändigen. Beide Seiten sind in der Pflicht: die Geflüchteten und die Gesellschaft, die die Menschen aufnehmen sollte. Es müssen Gesetze verabschiedet werden, die dies ermöglichen.“

Und er fügt hinzu: „Integriert sind nicht nur diejenigen, die arbeiten. Es gibt viele, die ehrenamtlich tätig sind oder die traumatisiert sind und daher nicht arbeiten können. Das sind alles Menschen, die sich bemühen. Deshalb müssen wir Integration von Leistung loslösen und schauen, wie wir den Menschen das Ankommen erleichtern können. Wir dürfen die Menschen nicht fünf oder sechs Jahre lang ohne Perspektive lassen.“ Konkret prangert er an, dass die Politik zwar Bleiberechtsmöglichkeiten bietet, aber gleichzeitig den Zugang dazu verschließt.

Alaows selbst lernte die deutsche Sprache innerhalb kürzester Zeit u.a. mithilfe des Grundgesetzes und anderer Gesetzestexte. Das klingt ungewöhnlich, jedoch war es für ihn als Jurist wichtig, die „roten Linien und den Rahmen unserer Demokratie“ zu kennen, wie er sagt. Nach den Protesten vor dem Bochumer Rathaus blieb er in den Folgejahren weiterhin politisch aktiv: Laut eigener Aussage wollte er Unrecht nicht einfach hinnehmen. Als Mitbegründer der Seebrücke setzt er sich für sichere Fluchtwege und die Entkriminalisierung der Seenotrettung ein. Außerdem engagiert er sich beim Flüchtlingsrat Berlin für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Asylsuchenden.

 

Als erster syrischer Geflüchteter will er in den Bundestag

Doch das reichte ihm nicht: Um den Forderungen und Problemen von Geflüchteten auf höchster politischer Ebene Aufmerksamkeit zu verschaffen, verkündete er im Februar dieses Jahres, bei der Bundestagswahl am 26. September als Direktkandidat im Wahlkreis Oberhausen und Dinslaken antreten zu wollen. Seine politische Heimat hat er bei den Grünen gefunden. Mit ihnen sympathisiert er wegen ihres Vielfaltsstatuts und weil sie seiner Meinung nach die Themen Klima und Flucht zusammen denken. Mit seiner Bundestagskandidatur will Alaows für mehr Repräsentation sorgen:

„Geflüchtete Menschen fühlen sich nicht vertreten im Parlament. Während Migrant:innen und Geflüchtete 25% der Bevölkerung ausmachen, haben nur etwas mehr als 8% der Parlamentarier:innen eine Migrationsgeschichte.“

Diesen niedrigen Anteil führt er auf drohende rassistische Anfeindungen zurück. Für mehr Vielfalt im Bundestag sieht er die Parteien in der Pflicht, genau diese Bevölkerungsgruppe stärker anzusprechen und den Menschen im Falle einer Kandidatur ausreichend Schutz zu bieten.

Außerdem plädiert er dafür, allen in Deutschland lebenden Menschen ab 16 Jahren das aktive und passive Wahlrecht einzuräumen und die Wahlprogramme in andere Sprachen zu übersetzen:

„Migration und Flucht sind keine interessanten Themen für die Politik, da es sich bei Geflüchteten nicht um Wähler:innen handelt. Nur wenn sie das Wahlrecht erhalten, wird die Politik sie als Adressat:innen wahrnehmen. Dann kann es auch eine Lobby für sie geben. Außerdem sollte Bestandteil der Demokratie sein, dass Menschen, die an einem bestimmten Ort leben, sich an den Debatten beteiligen können. Und wenn wir die Demokratie komplett umsetzen wollen, müssen Geflüchtete wählen und kandidieren können.“

 

Hass und Hetze lassen nicht lange auf sich warten

Nach Bekanntgabe seiner Bundestagskandidatur behauptete Die Welt fälschlicherweise, er wolle Hand anlegen an die Inschrift des Bundestags, was für sehr viel Aufruhr sorgte: „Die Zeitung hat den Eindruck erweckt, ich würde einen Tag nach der Wahl in Arbeitsklamotten und mit Hammer und Leiter Richtung Bundestag marschieren, um die Inschrift zu ändern.“ Dabei bezog sich seine Aussage „Mit mir im Bundestag würde es nicht nur ‚Dem deutschen Volke‘ heißen, sondern ‚Für alle Menschen, die in Deutschland leben‘“ nicht auf die Inschrift. Sie sollte vielmehr verdeutlichen, wem Alaows als Abgeordneter dienen wollte. Die Welle des Hasses und der Hetze, die während seiner Bundestagskandidatur über ihn hereinbrach, führt er aber nicht auf die Falschdarstellung zurück, die später sogar korrigiert wurde:

„Menschen, die rassistisch sind, andere beleidigen oder bedrohen, brauchen keine Begründung. Sie argumentieren nicht rational und wollen einfach nur hassen.“

Auf Anfeindungen war Alaows gefasst gewesen. Das Ausmaß der Bedrohungen kam für ihn jedoch völlig überraschend. Bis zu seinem Rückzug von der Bundestagskandidatur Ende März hat sein Team täglich mehrere Stunden damit zugebracht, Hasskommentare in den sozialen Medien zu dokumentieren und zu löschen. Hinter den Nachrichten vermutet Alaows organisierte Gruppen und keine Einzelpersonen. Die Morddrohungen, die er zum Teil erhalten hat, richteten sich nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen sein Umfeld. Alles strafrechtlich Relevante hat er zur Anzeige gebracht. Allerdings ist der Ausgang der Verfahren nach wie vor offen. Das Tückische an Gewalt im Internet beschreibt er so: „Dieses Ausmaß hätte ich mir nicht vorstellen können. Irgendwann ist einfach nicht mehr kalkulierbar, was davon real werden kann und was nicht.“

 

Die Bedrohungslage wird immer unberechenbarer

Nach einem Vorfall im wahren Leben sah er sich schließlich gezwungen, seine Bundestagskandidatur zurückzuziehen. Als er eines Abends nach dem Treffen mit einer Freundin allein den Heimweg antrat, passierte ihm in Berlin folgendes:

„In der U-Bahn bin ich einer Person begegnet, die mich erkannt hat. Sie fing an, mich anzuschreien, und beschuldigte mich, die Scharia einführen zu wollen. Ich wusste nicht, ob mich die Person ‚nur‘ beleidigen will oder mich tatsächlich angreifen wird. Zum Glück kam es nicht zu einem Angriff, weil ich nicht reagiert habe. Ich konnte an der nächsten Haltestelle aussteigen, aber das waren die längsten 90 Sekunden meines Lebens, weil ich überhaupt nicht abschätzen konnte, was passieren wird.“

Am meisten quälte ihn der Gedanke, dass er seine Freundin in eine bedrohliche Situation hätte bringen können, wenn sie ihn begleitet hätte. Neben seinem Umfeld in Deutschland war er auch besorgt um die Sicherheit seiner Familie in Syrien. Denn die Hasskommentare aus dem Netz stammten laut Alaows nicht nur von Rechten hierzulande, sondern zum Teil auch von Nationalisten aus Syrien, die dem Assad-Regime nahestehen und mit denen die AfD seit Jahren kooperiert. Und eines ist sicher: Für seine Familie hätte es keinen Schutz gegeben. Schließlich zog Alaows die Reißleine:

„Dass ich für meine Sicherheit nicht garantieren kann, ist meine eigene Entscheidung, aber ich habe eine Verantwortung meinem Umfeld gegenüber. Ich wollte zwar kandidieren, allerdings nicht um jeden Preis.“

 

Die Politik sollte Lehren ziehen aus dem Fall Alaows

Alaows betont, dass er während seiner Bundestagskandidatur viel Unterstützung von den Grünen, von anderen Parteien und aus der Gesellschaft erfahren hat. Deshalb fragt er sich: „Wie geht es erst Leuten, die nicht so viel Unterstützung erhalten? Wie viele Versuche zu kandidieren gab es von Geflüchteten und Migrant:innen, von denen wir nichts wissen? Mein Fall hat für viel Aufmerksamkeit gesorgt, weil es um die Bundesebene ging. Das sollte eine Warnung für die demokratischen Parteien sein, anders mit dem Thema umzugehen.“ Die Grünen haben nach seinem Rückzug Maßnahmen zum Schutz von Parteimitgliedern mit Migrations- und Fluchtgeschichte eingeleitet. Generell sollten alle Parteien derartige Kandidaturen stärker fördern. Denn für Alaows steht fest:

„Je mehr sich die Vielfalt der Gesellschaft in der Politik widerspiegelt, desto normaler werden solche Kandidaturen irgendwann wahrgenommen. Außerdem brauchen wir verschärfte Gesetze gegen Hass und Rassismus in der Gesellschaft.“

Auch wenn sich Alaows von der großen politischen Bühne verabschiedet hat, bedeutet dies nicht das Ende seines Engagements. Er arbeitet weiterhin als Berater für Geflüchtete im Bereich Asyl- und Aufenthaltsrecht. Nach wie vor ist er auch bei der Seebrücke und beim Flüchtlingsrat Berlin aktiv. Alaows geht fest davon aus, dass er der Politik immer erhalten bleiben wird. Ob er in Zukunft nochmal kandidieren wird, lässt er offen.

 

 

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