Die Schönheit der Demokratie — mit Sahar Reza

 

Löffelnd lesen & lernen  das ist unsere neue Blogreihe mit Beiträgen von kohero, dem Magazin für interkulturellen Zusammenhalt. Kohero ist eine inklusive Plattform für Migrant:innen und gibt Menschen, die nach Deutschland eingewandert sind die Möglichkeit ihre Perspektiven, Geschichten und Meinungen in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen.

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Die ursprünglichen Artikel wurden hier und hier bei kohero veröffentlicht.

 

Disclaimer – Der Artikel von Sahar erschien, bevor Kabul und damit die Regierung Afghanistans an die Taliban gefallen sind und die demokratische Führung endete. Uns ist aber wichtig, trotzdem diese Perspektive aufzuzeigen, weil auch die demokratischen Entwicklungen in Afghanistan nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Ob überhaupt Wahlen in den kommenden Monaten und Jahren noch stattfinden, nachdem die Terrormiliz die Sharia ausruft, bleibt sehr fragwürdig. Bitte vergesst nicht, dass auch eure Stimme darauf Einfluss nimmt.

 

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Foto: Daniel Barth, Autorin: Sahar Reza

 

 

Die Schönheit der Demokratie

»Vor dem Gesetz muss jeder gleich sein« - so heißt es. Gesetze wie diese sind auf dem Papier geschrieben, aber weit entfernt von der Realität, findet die Autorin Sahar Reza. Nach ihrer Erfahrung wurde dieser Artikel aus der afghanischen Verfassung nicht praktiziert. Die Schönheit der Demokratie sieht anders aus.

In Artikel 22 der afghanischen Verfassung heißt es weiter, dass jede Art von Diskriminierung und Unterscheidung zwischen afghanischen Staatsbürgern verboten ist. Das heißt, die Bürger*innen Afghanistans, jeder Mann und und jede Frau, haben vor dem Gesetz die gleichen Rechte und Pflichten.

Ob das jedoch tatsächlich der Wahrheit entspricht, ist eine ganz andere Frage! Solche Gesetze zu schreiben, ist einfach. Sie umzusetzen und sich daran zu halten, fällt den Beamt*innen in Afghanistan offensichtlich schwer.

 

Demokratische Grundregeln – leider nicht überall

In nahezu jeder Demokratie ist rechtlich festgelegt, dass alle vor dem Gesetz gleich sind und nicht aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder Sprache diskriminiert werden dürfen. Das ist das Schöne an der Demokratie. Aber nicht alle Menschen haben das Privileg, die demokratischen Grundregeln in ihrer Gesellschaft zu genießen.

Seit dem 19. Jahrhundert und bis heute bemüht sich die Mehrheit der nicht-demokratischen Länder um die Gleichberechtigung der Geschlechter in allen Lebensbereichen.

 

Afghanistan – noch weit entfernt von Gleichberechtigung

In Afghanistan sind weniger Frauen an Entscheidungsprozessen beteiligt, lernen weniger Frauen und Mädchen an Schulen und Universitäten. Dort sind weniger Frauen in offiziellen Ämtern tätig und weniger Frauen dienen in der Armee oder bei der Polizei. Frauen sind in allen Teilen der Gesellschaft unterrepräsentiert und bekommen selten Gelegenheit, sich zu beweisen. Dies gilt übrigens nicht nur in den Provinzen, wo sich das Patriarchat ohnehin über die Gesetzgebung stellt.  Auch in der Hauptstadt und in moderneren Provinzen ist das so.

Im 20. Jahrhunderts haben Frauen weltweit, auch in Afghanistan, erfolgreich für Wahlrecht gekämpft. In der Folge erhielten sie das Recht, am politischen Prozess teilzunehmen, zu wählen und Führungsrollen zu übernehmen.

 

Nicht nur Frauen erleben diskriminierende Praktiken

Seit der Suffragetten-Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts und später mit der Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UDHR) im Jahr 1948 wurde unbestreitbar viel für die Umsetzung der Gleichstellung vor dem Gesetz erreicht. Doch laut data.worldbank.org existieren in knapp der Hälfte aller Staaten Gesetze, die es Frauen verbieten, in bestimmten Berufen zu arbeiten. In noch mehr Nationen ist sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz kein Straftatbestand. Und in immerhin 18 Ländern dürfen Ehemänner ihren Frauen laut Gesetz verbieten, überhaupt zu arbeiten. Dies sind diskriminierende Praktiken, in denen die Rechtsstaatlichkeit keine Rolle spielt.

Frauen und Mädchen sind natürlich nicht die einzigen, denen die Gleichstellung vor dem Gesetz vorenthalten wird. In Afghanistan gibt es auch Ungleichheiten zwischen verschiedenen religiösen Gruppen und ethnischen Minderheiten. Ich habe das selbst bei Behördengängen erlebt. Wenn der verantwortliche Beamte einer anderen ethnischen Gruppe angehörte als ich, musste ich länger warten und härter um meine Rechte kämpfen, als die Mitglieder der dortigen Mehrheitsgesellschaft. Ich weiß die Schönheit der Demokratie zu schätzen.

Übersetzung: Zoha Aghamedi mit freundlicher Unterstützung von Media Residents.

Der Text erschien zuerst im Magazin “Gesicht Zeigen!” zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes.

 

Sahar kommt aus Afghanistan und hat ihre Kindheit in Pakistan verbracht. Ihr Studium hat sie in Indien und Hamburg (Master Politik- und europäischen Rechtswissenschaft) absolviert. Sie hat im Management und im Journalismus gearbeitet. Seit langem setzt sie sich für Menschenrechte (besonders Frauen-, Kinder- und Flüchtlingsrechte) ein. Für kohero (früher Flüchtling-Magazin) ist sie seit 2017 aktiv.

„Ich arbeite für das kohero-Magazin, weil das Magazin mir eine Stimme gibt und ich habe die Möglichkeit, über verschiedene Themen zu schreiben und kann in meinem Arbeitsbereich Journalismus in Deutschland weiterarbeiten und aktiv sein.“

Sahars Geschichte

Ich bin Flüchtling seit meiner Kindheit. Als ich drei Jahre alt war, floh meine Familie wegen des Krieges nach Pakistan, um unsere Leben zu retten. Meine Eltern ließen sich dort nieder und begannen unter schwierigen Verhältnissen zu arbeiten, damit sie uns ernähren konnten.

Mein Weg von Kabul nach Hamburg

Ich war 19, als Hamid Karzai Premierminister wurde und wir daraufhin vorläufig nach Afghanistan zurück gingen. Um mein Studium fortzusetzen, verließ ich unsere Heimat aber erneut und ging nach Indien. Es war nicht einfach ohne meine Familie zurecht zu kommen. Da ich studieren und hart arbeiten musste, vergingen die Jahre und ich kehrte nach Afghanistan zurück. Jedoch kannte ich mein Schicksal nicht, dass ich wieder einmal allein sein musste, wieder weit weg von meiner Familie. Ich fühle mich innerlich sehr schlecht. Ich vermisse meine Familie und ich fühle mich schuldig und schlecht dafür, dass ich nichts für sie tun kann.

Als Frau war es keine einfacher Weg für mich. In meinem Land hatte ich viele Probleme wegen derer ich floh: politische, Sicherheits-, familiäre Probleme und Diskriminierung waren die grundlegenden Faktoren, die mich zwangen, mein Land zu verlassen. Nicht nur ich, sondern auch meine Mutter und drei meiner Schwestern verließen Afghanistan. Wir gingen über Pakistan in den Iran,  wo wir einen Monat blieben, weil wir einen Schlepper finden wollten, der weniger verlangte, so dass alle meine Familienmitglieder zusammen reisen konnten. Es gelang uns nicht. Meiner Mutter war es nicht möglich die Straßenroute zu benutzen. Sie blieb mit meinen drei kleinen Schwestern zurück. Ich aber setzte meine Reise alleine fort. Es war nicht einfach für mich, meine Familie zu verlasse- aber ich hatte keine andere Wahl. Ich brach in die Türkei auf und anschließend nach Griechenland, wo ich einige Wochen blieb. Dort fand ich mich zurecht durch die Begleitung einer Familie, die Töchter in meinem Alter hatte. Nach einer langen Wartepause verließ ich Griechenland mit einer anderen Familie in Richtung Europa. Wie andere illegale Reisende auch, hatten wir einen weiten Weg: größtenteils mit dem Schiff, anschließend per Auto, LKW und Zug, bis wir Europa erreichten.

Auf dieser Reise und in dem Land, in dem ich Asyl beantragte, begegneten mir viele Probleme. Es ist keine einfach Entscheidung, als Frau eine illegale Reise anzutreten und die Erfahrungen, die ich auf meinem Weg und an meinem Ankunftsort machte, waren hart. Ich wurde mit körperlichem Missbrauch der Männer konfrontiert, die mit mir reisten. Auch verbale Beschimpfungen und Beleidigungen musste ich über mich ergehen lassen. Ich fühlte mich nirgends sicher und konnte auf der kompletten Reise nicht schlafen. Nicht nur ich, sondern alle Frauen, die mit mir waren, hatten diese Bedingungen. Wir hatten keinen anständigen Ort um zu Schlafen oder um ein Bad oder eine Toilette zu benutzen. Manchmal denken Männer, wenn eine Frau alleine ist, dann ist sie eine sogenannte „unanständige Frau“. Es ist ihr patriarchistisches Gedankengut, das ihnen das Recht gibt, alles was sie wollen zu sagen oder zu tun, während Frauen das in jedem Fall akzeptieren müssen. Aber nein, sie müssen daran denken, dass keine Frau freiwillig allein ist und keine Frau ihr Land verlässt, solange in diesem Land noch ein Platz für sie zu leben ist. Ich möchte hier ausdrücklich sagen: respektiert Frauen! Sie sind eure Mütter, eure Schwester, eure Ehefrauen, eure Töchter und eure Freunde.

 

 

Mehr über Flucht, Migration und Zusammenhalt erfährst du in Koheros Multivitamin-Podcast!



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